Inhalte und Methodik von Straßensozialarbeit
Sozialarbeit beinhaltet unterschiedlichste Arbeitsinhalte, dieses sind unter anderem:
- Unterstützung beim (Über-)Leben auf der Straße: Information über das Hilfesystem, die bestehenden Angebote und deren Erreichbarkeit,
- akute Krisenintervention: Einleitung der Rettungskette (Notarzt, RTW, SPDI),
- falls erforderlich und / oder gewünscht: Anregung von rechtlichen Betreuungen
- bei Bedarf Ausgabe von Kleidung und Hygieneartikeln als Soforthilfe,
- Unterstützung bei der Klärung von Leistungsansprüchen und deren Beantragung,
- Unterstützung bei der Beschaffung von Ausweispapieren u.ä.,
- Information über unterschiedliche Wohnangebote (Mietwohnung, Aufnahme in die kommunale Wohnungsvermittlung, Krankenwohnungen) und Unterstützung bei Antragstellung,
- als Akuthilfe: Information über und Motivation zur Inanspruchnahme einer ordnungsrechtlichen Unterbringung,
- Unterstützung beim und Motivation zum (Wieder-) Aufbau sozialer Kontakte
- Information zu therapeutischen Angeboten (z.B. medizinische Einrichtungen, Suchttherapien, psychiatrische Angebote), Motivation zur Inanspruchnahme und praktische Unterstützung für „die ersten Schritte“.
Straßensozialarbeit ist ein eigenständiger Arbeitsansatz, der sich nicht nur vom Einsatzort her von anderen Beratungstätigkeiten unterscheidet.
Die Klient*innen geben das Tempo vor, bestimmen Umfang und Ziel des Handelns. Eine Ausnahme von diesem Prinzip ist lediglich dann vorgesehen, wenn zur Abwendung einer konkreten Gefährdung die Einschaltung des Sozialpsychiatrischen Dienstes oder der medizinischen Notversorgung erforderlich ist. Diese Rahmenbedingungen lassen sich zusammenfassen als:
Akzeptanz und Freiwilligkeit
Straßensozialarbeit orientiert sich an der Lebenswelt der Betroffenen und berücksichtigt deren Lebensrealität und Wahrnehmung. Psychiatrische Erkrankungen und andere erschwerende Lebensumstände finden in der Arbeit ausdrücklich Berücksichtigung und Akzeptanz. Die Angebote von Straßensozialarbeit sind für die Betroffenen freiwillig, abweichende Lebensstile werden akzeptiert. Allein die Klient*innen entscheiden, welche Ziele verfolgt werden sollen und welche Unterstützung auf dem Weg dorthin angenommen wird.
Parteilichkeit
Straßensozialarbeit ist in ihrem ganzen Selbstverständnis parteiisch. Dieses bedeutet nicht, Forderungen der Betroffenen 1:1 umzusetzen, sondern deren Interessen und Argumente in Diskussionsprozesse und Entscheidungen als subjektive Meinung einzubringen, zu verdeutlichen und als eine Facette der Diskussion sichtbar zu machen.
Straßensozialarbeit bedingt einen Vertrauensaufbau zur Klientel. Dieses führt unter anderem zu der Notwendigkeit, Soziale Arbeit klar von ordnungsrechtlicher Intervention abzugrenzen. Das bedeutet nicht, dass Fehlverhalten, Lärmbelästigung oder Gewalt gegen Dritte akzeptiert werden. Kommt es zu Störungen im öffentlichen Raum, thematisiert Straßensozialarbeit dieses mit den Betroffenen, es geht um das Werben für gegenseitiges Verständnis, die Kommunikation von Regeln und das Aufzeigen von Konsequenzen.
Anonymität
Die Betroffenen haben aufgrund ihrer Lebenssituation (Scham wegen Schulden, strafrechtlicher Verfolgung, persönliche Beziehungen und deren Abbrüche zur Familie oder Freunden u. v. m.) ein besonderes Interesse an Anonymität und vertraulichem Umgang mit Informationen. Die Erhebung von persönlichen Daten findet daher nicht statt, Sozialarbeitende unterliegen einer spezifischen Schweigepflicht.
Die Arbeit der Straßensozialarbeit erfolgt aufsuchend auf der Straße, aber auch stationär im Dienstgebäude, wo Straßensozialarbeit innerhalb fester Sprechzeiten ansprechbar für Mitarbeitende und Klient*innen ist und in Einzelfallberatungen der Leistungssachbearbeitung eingebunden werden kann. Es besteht so eine enge Kooperation und ein regelmäßiger Austausch mit dem Leistungsbereich (auch und gerade zur Prüfung realistischer und schneller Hilfsmöglichkeiten).
Darüber hinaus nutzt Straßensozialarbeit Gremien und Arbeitsgruppen, um auf die Lebenssituation obdachloser Menschen aufmerksam zu machen und die Interessen der Betroffenen zu vertreten. Diese Netzwerkarbeit ist wichtiger Bestandteil der Arbeit.
Straßensozialarbeit im Wandel
Ende der Achtziger Jahre stand die damalige Passerelle (jetzt: Niki de St. Phalle Promenade) stark im öffentlichen Fokus. Die unterirdische Verbindung zwischen Bahnhof und Oststadt wurde von wohnungslosen Menschen, Suchtmittel konsumierenden Menschen und „Dealern“ verstärkt genutzt. Soziale Verelendung und mangelnde öffentliche Kontrolle führten zu einem starken Unsicherheitsgefühl bei Passant*innen und Geschäftsleuten. Im Rahmen der damals beschlossenen Vorhaben (bauliche Maßnahmen, Sicherheitsdienst, soziale Angebote) wurden 1990 zwei Stellen für Straßensozialarbeit im damaligen Sozialamt eingerichtet. In 2018 konnte eine zusätzliche Stelle eingerichtet werden.
Räumlicher Schwerpunkt war und ist der Innenstadtbereich und hier besonders die zentralen Plätze rings um den Bahnhof. Die bisherige Arbeit ist sehr stark davon geprägt, Menschen in prekären Lebenslagen niedrigschwellig Gesprächsangebote zu machen und ihnen Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten anzubieten. Schwerpunkt der Arbeit sind Menschen, die sichtbar im Straßenraum leben / lagern (Straßenobdachlosigkeit), dieses sind überwiegend alleinstehende Männer.
Die bestehende Straßensozialarbeit im Innenstadtbereich ist heute und in Zukunft ein geeignetes Mittel zur Unterstützung der betroffenen Menschen und zur Abschwächung von Nutzungskonflikten. Parallel haben sich neue Bedarfe und Handlungsoptionen ergeben, die eine strategische Neuausrichtung der Straßensozialarbeit erfordern. Die derzeitige Beschränkung der Arbeit auf den räumlichen Schwerpunkt „Innenstadt“ ist allein nicht mehr ausreichend, um auf die veränderten Bedarfe / Anfragen adäquat reagieren zu können.
Unterstützung für wohnungslose Frauen (in Umsetzung seit 2021)
Es gibt Hinweise darauf, dass das Erleben von häuslicher Gewalt für Frauen ein Risikofaktor ist, der zu Wohnungslosigkeit führen kann. Ein Zugang zum Gewaltschutzsystem ist auch für wohnungslose Frauen theoretisch vorhanden. Gerade bei psychisch erkrankten Frauen oder bei einer Abhängigkeit von Suchtmitteln gibt es in der Praxis aber oft zu viele Zugangsbarrieren (so nehmen Frauenhäuser Hilfesuchende, die illegale Substanzen konsumieren, grundsätzlich nicht auf). Frauen sind auch Mütter und im klassischen Rollenbild oft noch in der vorrangigen Verantwortung für die Kinder. Eine Wohnungsnotfallsituation (zum Beispiel die Kündigung einer Wohnung und der drohende Wohnungsverlust) und das Wissen um die Verantwortung als Mutter können eine große Belastung darstellen und ein Hemmnis sein – aus Angst – das vorhandene Unterstützungssystem in Anspruch zu nehmen. Aber auch die Angst vor Schutzlosigkeit oder der gesellschaftlichen Ablehnung führt dazu, dass viele betroffene Frauen versuchen, ihre Situation so lange es geht, nicht öffentlich zu machen. Dadurch besteht gerade bei Frauen eine deutliche Diskrepanz zwischen „sichtbarer“ und „tatsächlicher“ Problemlage. Um Obdachlosigkeit zu vermeiden, nutzen Frauen verstärkt Übernachtungsmöglichkeiten bei „Bekannten“ - mit allen damit unter Umständen verbundenen Abhängigkeiten, sexualisierter Gewalt etc.
Wohnungslose Frauen sind so in besonderer Weise von Wohnungslosigkeit betroffen. Auch bisher wurden Frauen über die bestehende Straßensozialarbeit in der Innenstadt unterstützt. Der Aufbau einer speziellen aufsuchenden Beratung für Frauen war auf Grund der geschlechtsspezifischen Bedarfe jedoch dringend geboten. Im Jahr 2021 konnten zwei Stellen für diese Arbeit neu eingerichtet und bis zum 4. Quartal vollständig besetzt werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass wohnungslose Frauen (aber auch Männer) die Wahlmöglichkeit schätzen, ob sie eine Unterstützung durch eine weibliche oder männliche Person in Anspruch nehmen wollen. Durch die Besetzung der Stellen konnten ebenfalls bereits positive Effekte in der Vernetzung mit anderen frauenspezifischen Angeboten umgesetzt werden.
Geschlechtersensible Beratungs- und Unterstützungsangebote werden in Zukunft immer wichtiger sein. So wurden zum Beispiel als Projekte des Interventionsfonds eine Basisversorgung mit Hygieneartikeln nach geschlechtsspezifischen Bedarfen umgesetzt und „Notfallpieper“ (Taschenalarm) zum verbesserten Eigenschutz verteilt.
Diversität in der Wohnungslosenhilfe
Nach dem Aufbau einer speziellen Unterstützung für wohnungslose Frauen wird im nächsten Schritt die Unterstützung von Menschen außerhalb der klassischen Frauen- oder Männerarbeit Thema sein. LSBTIQ ist bisher in der Wohnungslosenarbeit eher ein Randthema. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Intersexuelle und queere Menschen sind aber ein Teil der Szene. Beratungs- und Unterstützungsangebote müssen daher dringend auch die Bedarfe dieser Personengruppen mit einbeziehen und sie als Klientel ausdrücklich und aktiv einbinden.